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Schriftliche Stellungnahme zu Mireo-Fahrzeugen ans Verkehrsministerium – HTML-Text

Datum: 12.11.2020

Antwort auf Ihr Schreiben vom 11.09.2020

 

Sehr geehrter Herr Minister Hermann,

sehr geehrter Herr Dr. Lahl,

 

Dankeschön für die hilfreiche und in mancher Hinsicht nützliche Antwort vom 11.09.2020.

Der von Ihnen in Aussicht gestellte Vorstellungstermin der neuen Fahrzeuge hat mittlerweile stattgefunden. Auf Einladung von Herrn Büchel von DB Regio hatten am 05. Oktober 2020 einige Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen sowie einige Behinderten-Vertreter (Kommunale Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung) mit uns Gelegenheit, einen der neuen Triebzüge des Typs Mireo der S-Bahn Rhein-Neckar zu sehen und zu ertasten.

Schon vor Ort wurden von Teilnehmern spontan einige Anmerkungen gemacht, als sie auf Hindernisse stießen. Nachfolgend finden Sie eine stichpunktartige (nicht abschließende) Aufzählung einiger Barrieren am und im Fahrzeug:

  • Fahrzeugaußenseite:
    • Die Fahrtzielanzeigen sind schlecht bzw. nicht lesbar (frontal und seitlich).
    • Die Piktogramme auf den Türen sind klein und nicht eindeutig.
    • Der einzige Mehrzweckbereich für Rollstühle liegt – anders als bisher – in der Fahrzeugmitte.

Wir denken: Hierdurch wird es allen Fahrgästen erschwert, sich im Vorfeld in Ruhe für den richtigen Zug am richtigen Bahnsteig und an der richtigen Position am Bahnsteig aufzustellen. Verschiedene Nutzergruppen wie Rollstuhl- und Rollatornutzer*innen und Fahrgäste mit Fahrrädern oder Kinderwägen können sich nicht zuverlässig verteilen, das wird zu Hektik und Unsicherheit am Bahnsteig und den Einstiegsbereichen führen. Fahrgäste, die explizit auf den Rollstuhlbereich angewiesen sind und Hilfe benötigen, können wegen der größeren Entfernung zum Triebfahrzeugführer mangels Blickkontakt übersehen werden.

  • Einstiegsbereiche:
    • Bei standardmäßig halbausgefahrenen Schiebetritten verbleibt ein gefährlich großer horizontaler Restspalt zwischen Bahnsteigkante und Fahrzeug.
    • Die Anforderungstaste zum Vollausfahren der Schiebetritte an der Fahrzeugaußenseite ist – gerade bei Mobilitätseinschränkung keinesfalls leicht zu erreichen.
    • Auch bei vollausgefahrenen Tritten bleibt ein horizontaler Spalt zum Stolpern.
    • Eine zusätzliche Kante oberhalb des Schiebetritts erschwert den Einstieg mit Rollstühlen (auch Elektrorollstühlen und Rollatoren) und macht diesen ggf. unmöglich.
    • Das Anlegen einer Faltrampe im Bedarfsfall durch das Zugpersonal kostet Zeit. Das aktuelle Modell ist ungewöhnlich zeitintensiv, zudem werden für alle Beteiligten weitere gefährliche Stolperfallen gelegt, auch für später nachkommende Fahrgäste.
    • Im Falle einer Türstörung ist keine barrierefreie Ausweichmöglichkeit über einen anderen Einstiegsbereich vorhanden.

Wir wissen: Bei der Planung der Einstiegssituation hat jedes einzelne Merkmal erheblichen Einfluss auf das Zusammenspiel aus Infrastruktur, Fahrzeugen und Fahrplan. Im Alltag sind für dieses Fahrzeug große Verzögerungen beim Ein- und Ausstieg und Stau im Türbereich absehbar. Diese Nachteile treffen auch die mobilitätseingeschränkten Fahrgäste. Genauso ist absehbar, dass Mitreisende ebendiese Verzögerungen den Fahrgästen mit Behinderungen, nicht aber der unausgereiften technischen Umsetzung anlasten werden. Der unbedarfte Vorschlag während der Präsentation zur Voranmeldung einer Einstiegshilfe steht einer selbstständigen und spontanen Nutzung des Nahverkehrs gänzlich im Wege und darf keine Lösung sein. Auch der Hinweis, eine spätere Bahn nehmen zu können, die möglicherweise weniger ausgelastet sei, ist eine Zumutung.

  • Im Triebzug:
    • Nur 2 Rollstuhlplätze im Triebzug werden im Alltag nicht ausreichen, ohne dass Gruppen größer als 2 Personen mit Rollstuhl oder anderen Hilfsmitteln von Vornherein von der Fahrt ausgeschlossen werden.
    • Die Anordnung dieser Plätze kann Rangier- oder Wendemanöver sehr kompliziert bis unmöglich werden lassen. Zusätzlich sind durch Rampen im Fußboden zum Einstiegsbereich Höhenunterschiede zu überwinden. An dieser Engstelle direkt neben dem kleinen Universal-WC werden nicht nur eine hohe Anzahl an Fahrgästen passieren wollen, sondern bietet sich vom Rollstuhlplatz aus auch bei sich öffnender Toilettentür ein „Panoramaausblick“ auf den Toilettensitz.
    • Am Rollstuhlplatz fehlt ein Taster für die Rampenanforderung. Im Ergebnis verlassen Rollstuhlnutzer*innen den gesicherten Stellplatz entweder noch während der Einfahrt in die Station, was das Unfallrisiko für sie selbst und andere erhöht oder bewegen sich erst nach Stillstand des Fahrzeuges zum Einstiegsbereich. Zweiteres führt unweigerlich zu Verspätungen.
    • Von keinem der Vorrangsitze für Menschen mit Behinderungen und mit eingeschränkter Mobilität ist die Toilette stufenlos erreichbar.
    • Erschwerte Fahrgast-Information: Die Lesbarkeit der Displays im Innenraum ist nicht für stehende und sitzende Fahrgäste gleichermaßen blendfrei gestaltet, zusätzlich fehlt zur Orientierung im Zug eine durchgängige Kennzeichnung in Tastschrift

Für uns steht fest: Auch die Gestaltung des Innenraums wirft für Fahrgäste mit Einschränkungen weitere Probleme auf. Schnell und unkompliziert an einen bzw. den richtigen Sitzplatz zu gelangen, über den Fahrtverlauf informiert zu bleiben, evtl. die Toilette zu benutzen und wieder rechtzeitig zum Ausstieg zu kommen, kann hier je nach Einschränkung eine Herausforderung sein.

Abschließend muss bezüglich unseres Vorstellungstermins auch nochmal betont werden, dass in dieser Umgebung unkontrollierbare Faktoren, wie z.B. Zeitdruck oder andere Fahrgäste natürlich nicht berücksichtigt werden konnten. Diese werden sich im alltäglichen Betrieb nicht unbedingt als positiv für die Barrierefreiheit herausstellen.

Erfreulich war im Rahmen dieses Termins, dass es von anwesenden Eisenbahnern teilweise ebenso spontan Ideen gab, wie bestimmte Punkte geschickter hätten gelöst werden können. Einige der oben aufgeführten Probleme sind dem EVU seit unserem gemeinsamen Termin deswegen nun bewusst und können evtl. nachgebessert werden, falls der Aufgabenträger dies akzeptiert.

Natürlich war es ein erster Schritt, bei der Erstellung von zentralen Dokumenten u. a. den Fahrgastbeirat einzubeziehen, in dem auch Behinderte Mitglied sind und für das Musterlastenheft Vorschläge des Blinden- und Sehbehindertenverbandes Württemberg e.V. einzuarbeiten. Eine solche Ausgangsbasis ist nötig, da stört der fehlende regionale Bezug noch nicht – allerdings muss dieser im Projekt anschließend auch hergestellt werden.

Darüber waren wir tatsächlich im Juni 2019 – für das Projekt S-Bahn-Netz 6b damit sicherlich nicht wirklich frühzeitig – informiert worden. Von einer Beteiligung im Projekt selbst war nicht die Rede, nur davon, dass das Lastenheft größtenteils auf dem Musterlastenheft basieren soll. Insoweit war es nicht erstaunlich, dass zu Besonderheiten für die uns hier interessierenden neuen Fahrzeuge keine weiteren Details zu erfahren waren.

Für das Bestehen einer frühzeitigen Beteiligung im Projekt sind in der nun vorliegenden Antwort wie erwartet keine Anhaltspunkte enthalten. Mit unserer Auflistung einiger Schwachstellen des Fahrzeugs hoffen wir nun umso mehr deutlich gemacht zu haben, wie viele davon durch frühe Kontaktaufnahme mit Interessensvertretungen und Expert*innen in eigener Sache von vornherein vermeidbar gewesen wären. Nicht nur beim Musterlastenheft, sondern gerade im konkreten Projekt führt der gemeinsame Austausch zu umfassender Verbesserung der Barrierefreiheit mit oftmals kleinen und – zum richtigen Zeitpunkt – auch kostenneutralen Anpassungen.

Dankenswerterweise greifen Sie in Ihrer Antwort einige Punkte auf, die zusätzlich belegen, wieso die Notwendigkeit der Beteiligung in der von uns angeregten Art und Weise besteht. Bezüglich der Verteilung der Fahrradplätze oder der Einstiegssituation können wir gerne in einer separaten Antwort noch einige Anregungen an Sie weitergeben. Schließlich freuen wir uns sehr, wenn es uns gelungen ist, eine Situation so anschaulich und nachvollziehbar zu beschreiben, dass diese Anregungen als Verbesserung im eigenen Projekt verstanden werden können. So, dass Sie uns z.B. direkt Unterstützung zugesichert haben, die Sitze für Begleitpersonen von Rollstuhlfahrern entsprechend zu kennzeichnen. Dankeschön.

Trotzdem hat uns die Vorstellung des Fahrzeugs am 05.10.2020 erneut eines deutlich gezeigt: Immer und immer wieder suboptimale Lösungen vorgesetzt bekommen, das verschwendet Ressourcen. Genau aus diesem Grund haben wir uns an den zuständigen Minister gewandt, damit eine frühzeitige Beteiligung nicht nur irgendwie allgemein, sondern ganz konkret und praktisch im Projekt künftig sichergestellt wird. Deshalb kommen wir nochmals auf unsere ursprüngliche Forderung zurück: Frühzeitige Beteiligung der Organisationen von Menschen mit Behinderung möge und muss in Zukunft von Anfang an fest in Projektabläufe eingeplant werden, denn Barrierefreiheit ist ein Menschenrecht. Ohne systematische Beteiligung jedoch sind Fehler bei der Umsetzung von Barrierefreiheit – wie auch hier zu sehen – unvermeidlich. Darüber hinaus wird ein Projekt insbesondere dann Erfolg versprechen, wenn nicht einfach irgendwelche Menschen mit Behinderung gefragt werden, sondern ganz bestimmte: Zum einen überregional Fachleute und Erfahrene zum jeweiligen Themengebiet, zum anderen eben auf regionaler Ebene betroffene Menschen vor Ort. Für die Metropolregion Rhein-Neckar steht die Arbeitsgemeinschaft Barrierefreier Nahverkehr Rhein-Neckar (kurz: AG Mobilität) als Zusammenschluss von Interessensvertretern und Betroffenen speziell zum Thema Nahverkehr gerne als Ansprechpartner zur Verfügung (Kontakt über AG Barrierefreiheit). Bezüglich allgemeiner Anforderungen an Fahrzeuge hat die AG Mobilität bereits 2016 ein Eckpunkte-Papier an die Verantwortlichen formuliert. In Abschnitt C (S-Bahn-spezifische Anforderungen) sind viele der obigen Probleme bereits benannt.

Dieses Schreiben geben wir den Beauftragten der Belange von Menschen mit Behinderung folgender Städte/Kreise zur Kenntnis: Mannheim, Ludwigshafen, Heidelberg, Rhein-Neckar-Kreis, Kreis Bergstraße.

Mit freundlichen Grüßen

Vorstand und Geschäftsführung der AG Barrierefreiheit